75 Jahre Bundesrepublik: „Es funktioniert nicht mehr“
Die bislang größten Krisen erleben wir seit zehn Jahren, meint der Mainzer Geschichtsprofessor Andreas Rödder. Im Herbst erscheint sein Buch über „Aufstieg und Fall der Ordnung von 1990“. Im Interview erklärt der Professor für Neueste Geschichte an der Mainzer Johannes-Gutenberg-Universität und Mitgründer und Leiter der Denkfabrik R21, der als liberal-konservativer Vordenker in den Reihen der CDU gilt, was für ihn die größte Gefahr für unsere Demokratie ist.
Herr Professor Rödder, 75 Jahre Bundesrepublik: Ist das alt oder jung?
Ich finde das Alter bewundernswert. Die Lebensdauer der Bundesrepublik hat mittlerweile alle Staatsformen seit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation überschritten. Sie existiert länger als das „Dritte Reich“, die Weimarer Republik, das Kaiserreich oder der Deutsche Bund. Wir gehen ja gerne davon aus, dass Dinge, die wir kennen, immer so weitergehen. Aus historischer Perspektive ist dies keineswegs selbstverständlich.
Droht im Herbst eine Zäsur, falls die AfD stärkste Partei in mehreren Bundesländern würde?
Ich bin skeptisch gegenüber dieser Fixierung auf die AfD. Ich teile die Abneigung, die es in der Mitte der Gesellschaft gegen jede Form von Extremismus gibt. Aber die Art der Demonstrationen „gegen rechts“ habe ich für überzogen gehalten. Dadurch überhöht man nur die AfD.
Warum?
Was „Correctiv“ über das angebliche Geheimtreffen in Potsdam kolportiert hat, war alles andere als geheim. Vertreter der „neuen Rechten“ haben das, was dort offenkundig diskutiert wurde, schon lange öffentlich gesagt. Man muss sich damit auseinandersetzen, so wie es Mario Voigt (CDU-Spitzenkandidat in Thüringen, Anm. d. Red.) mit Björn Höcke gemacht hat. Es ist wichtig, im Umgang mit der AfD eine klare rote Linie von Demokratie, Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit zu ziehen und zu sagen, jenseits dieser Linie diskutieren wir nicht. Das heißt im Umkehrschluss, dass diesseits der roten Linie offen gesprochen werden kann und muss. Das ist der konstruktivere Umgang als diese ständige Rede von der „Brandmauer“, die ausgrenzt, einschließt und vor allem Rückwege verbaut.
Wie gelang es der jungen Republik, Fliehkräfte aufzuhalten?
Die CDU, aber auch die FDP haben die rechten Ränder aufgesaugt. In der FDP zum Beispiel ist in den fünfziger und sechziger Jahren eine Form von braun eingefärbtem Nationalismus unterwegs gewesen, gegen den wir heute sofort eine „Brandmauer“ aufbauen würden. Die Frage ist die gleiche geblieben: Bin ich moralisch-rein oder bin ich demokratisch-effizient? Damals ist die Integration in die Demokratie gelungen.
Zugleich gab es einen strammen Antikommunismus.
Die CDU war stets die Partei, die hart nach links ausgeteilt hat. Das begann mit Adenauer und setzte sich in den 1980er Jahren fort, als die CDU die Grünen ausgrenzte. In den 1990er-Jahren folgte die Rote-Socken-Kampagne. Aus historischer Sicht könnte man sagen: Jetzt ist Rückspiel. Die Linke macht mit der CDU, was die CDU früher mit der Linken gemacht hat.
Sie meinen, wer konservative Ansichten vertritt, wird als rechtsextrem abgestempelt?
Wir erfahren eine eigentümliche Verkehrung der Fronten. Wenn wir an die frühe Bundesrepublik denken, richtete sich die Staatsmacht gegen die Linke, etwa beim Radikalenerlass. Wenn ich heute Nancy Faeser und Verfassungsschutzchef Haldenwang zuhöre, die jeden Stein umdrehen wollen, sobald sie eine „Delegitimierung“ des Staates vermuten, richtet sich die staatliche Repression nach rechts, wobei sehr weit ausgelegt wird, was darunter zu verstehen ist. Liberal war und ist beides nicht.
Laut Umfrage misstraut jeder zweite junge Deutsche den Repräsentanten der Demokratie. Woher kommen die Zweifel?
Wir erleben eine Erosion des Vertrauens in die Leistungsfähigkeit des politischen Systems. Ich sehe vier Gründe: Erstens werden die Dinge tatsächlich komplexer. Es ist nicht so, dass ein Problem das andere ablöst, sondern ein Problem kommt auf das andere obendrauf. Zweitens haben wir ein Rekrutierungsproblem. Kaum noch Leute aus normalen Zivilberufen gehen in die Politik. Es ist der Eindruck entstanden, dass die Politik zu einer Parallelwelt geworden ist. Drittens eine Polarisierung der Öffentlichkeit, die durch permanente Moralisierung und moralisierende Ausgrenzung entsteht – von der Migration über die Klimapolitik bis zur Covid-Pandemie. Und viertens die Blasenbildung durch einen „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, um Habermas zu zitieren.
Wie krisenfest ist die Bundesrepublik?
Ich finde es auffällig, dass wir die heftigsten Krisen in den letzten zehn Jahren erlebten. Auch davor gab es Krisen: 1962 die Spiegel-Affäre, 1968 die Studentenrevolte, 1977 den Höhepunkt des RAF-Terrorismus, 1982/83 den Nato-Doppelbeschluss, 2008 die Finanzkrise – immer hat das System funktioniert. Seit 2015 ist das anders: Das System offenbart ernsthafte Funktionsmängel. Das Problem ungeregelter Migration ist von einer Lösung weit entfernt. Und die Pandemie hat viel Systemvertrauen gekostet.
War Corona die größte Krise?
Was ich an Corona frappierend finde, ist die Schnelligkeit, mit der sich fast schon totalitäre Fantasien durchsetzten, etwa im Umgang mit Ungeimpften, als klar war, dass die Impfung eine Weitergabe des Virus nicht verhindert. Das hat mich erschreckt.
Geht das Zeitalter der Demokratie zu Ende?
Von Endzeitfantasien halte ich nichts. Man kann ja fragen: Funktioniert die Demokratie nicht, weil der Populismus aufsteigt, oder steigt der Populismus auf, weil die Demokratie nicht funktioniert? Wir tun gut daran, die Dinge nicht moralisch zu überhöhen. Das gilt auch für die Demokratie. Ihre historische Stärke liegt gerade darin, dass sie nie perfekt war, aber fähig zu Selbstkritik und Selbstkorrektur ist. Daher müssen wir immer wieder prüfen: Wo müssen wir nachjustieren?
Ist es eine Ironie der Geschichte, dass die Demokratie vor allem in Ostdeutschland infrage gestellt wird?
In den sogenannten neuen Ländern gibt es tief sitzende Verletzungen angesichts der Dominanz des Westens. Die Leute wollen respektiert und nicht bevormundet werden. Insofern ist so etwas wie das Heizungsgesetz in Ostdeutschland besonders schlecht angekommen. Während im Westen die Gewöhnung an einen Zustand eingesetzt hat, den man sich gar nicht anders vorstellen kann, haben die Ostdeutschen eine Skepsis gegenüber staatlichen Strukturen. Und das Wissen, dass ein System auch kippen kann.
Wir wollen eine wehrhafte Demokratie sein. Wird unsere Außenpolitik diesem Anspruch gerecht?
Nach wie vor gilt, was der polnische Außenminister Radosław Sikorski bereits 2011 sagte: Er fürchte deutsche Macht weniger als deutsche Untätigkeit. Der Ausfall der Europäischen Union als globale Ordnungsmacht ist auch eine Folge deutschen Führungsversagens.
Wie groß ist die Gefahr durch Russland?
Niemand von uns weiß, was Putin vorhat, was er tun will oder tun wird, aber wir müssen uns klarmachen, was er tun könnte. Dazu passt das lesenswerte und kluge „Lange Telegramm“, das US-Botschafter George F. Kennan 1946 aus Moskau nach Washington schickte. Darin legt er dar, dass mit Stalins Sowjetunion keine Kooperation möglich ist, weil Stalin den Westen immer als Gegner betrachten wird. Kennan zog zwei Schlussfolgerungen. Erstens: Stärke nach außen, also eine Politik der glaubhaften Abschreckung. Zweitens: Stärke von innen, das heißt eine funktionierende liberale Demokratie. Kaum etwas ist so zeitlos und wichtig. Die Achillesferse des Westens sind innere Krisen. Wir müssen das eigene Haus in Ordnung bringen. Das ist die entscheidende Voraussetzung für die zentrale Herausforderung unserer Zeit: die aktive Selbstbehauptung der westlichen Gesellschaftsordnung.